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Nahost: Politik ist kein Abenteuerspielplatz
Selbstüberschätzung und Staatsräson – Warum Deutschland seine Nahostpolitik überdenken muss
Auch unter Freunden gilt: Try and Error ist keine Strategie.
Einleitung
Seit Angela Merkels Rede 2008 in der Knesset gilt die Sicherheit Israels für viele als Teil deutscher Staatsräson. Doch was als diplomatische Geste gedacht war, wurde zur politischen Doktrin überhöht – mit weitreichenden Folgen. Inmitten eines eskalierenden Nahostkonflikts und wachsender globaler Spannungen stellt sich die Frage: Ist bedingungslose Solidarität noch verantwortungsvoll – oder längst Teil des Problems?
Die Staatsräson – ein politisches Mantra ohne Gesetzesrang
Angela Merkels Satz „Die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“ war eine persönliche politische Bekräftigung – kein Gesetz, kein Verfassungsgrundsatz, kein Blankoscheck. Dennoch wurde diese Formulierung in den Folgejahren zur sakrosankten Formel erhoben, die jede Kritik an israelischer Politik als Tabubruch erscheinen lässt. Dabei ist es in einer Demokratie legitim – ja notwendig –, außenpolitische Grundsätze zu hinterfragen und neu zu justieren.
Die Einseitigkeit der deutschen Nahostpolitik – und das vergessene Erbe der DDR
Die heutige deutsche Nahostpolitik beruht fast ausschließlich auf der westdeutschen Tradition – mit ihrer bedingungslosen Solidarität gegenüber Israel. Dabei wird oft übersehen, dass die DDR eine gänzlich andere, ebenfalls legitim begründete Außenpolitik verfolgte. Sie erkannte das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser ausdrücklich an, unterhielt enge Beziehungen zur PLO und unterstützte die Anerkennung eines palästinensischen Staates bereits 1988.
Nach der Wiedervereinigung floss diese ostdeutsche Perspektive nicht in die gemeinsame Außenpolitik ein – im Gegenteil: Die westdeutsche Position wurde zur alleinigen Staatsdoktrin erhoben und in den Folgejahren zunehmend dogmatisiert. Die Anerkennung des palästinensischen Staates, wie sie die DDR vollzogen hatte, wurde von der Bundesrepublik bis heute verweigert. Diese einseitige Traditionsbildung verhindert eine ausgewogene Haltung im Nahostkonflikt und trägt zur Polarisierung der öffentlichen Debatte bei.
Der Iran – kein Paria, sondern geopolitischer Akteur
Der Iran ist kein isolierter Rohstoffstaat. Er verfügt über eine gebildete Bevölkerung, industrielle Kapazitäten und strategische Allianzen mit Russland, China und Pakistan. Ein Angriff auf den Iran birgt das Risiko einer regionalen Katastrophe – mit unabsehbaren Folgen. Wer einen Krieg nicht aus eigener Kraft gewinnen kann, sollte ihn nicht provozieren. Und wer ihn unterstützt, sollte wissen, worauf er sich einlässt.
Die Rolle der USA – und Deutschlands Dilemma
Die USA zögern mit einer klaren Positionierung. Präsident Trump hat sich bislang als Friedensvermittler inszeniert – und wäre gut beraten, diesem Kurs treu zu bleiben. Für Deutschland stellt sich die Frage: Wollen wir blind folgen – oder eigene Interessen und Werte abwägen? Eine Außenpolitik, die auf Kooperation statt Konfrontation setzt, wäre nicht nur im Nahen Osten, sondern auch gegenüber Russland dringend geboten.
Die Ukraine – ein zweites Beispiel strategischer Selbsttäuschung
Auch im Ukrainekrieg zeigt sich, wie Wunschdenken und politische Symbolik reale Interessen überlagern. Die Vorstellung, Russland militärisch besiegen zu können, hat sich als Illusion erwiesen. Die Ukraine verliert schrittweise Territorium – und der Westen Ressourcen und Ansehen. Es ist Zeit, von der Logik der Eskalation zur Logik der Diplomatie zurückzukehren.
Verdrängter Widerstand – Die Arbeiterbewegung und das Erbe der Repression
Die westdeutsche Erinnerungskultur hat den Widerstand gegen den Nationalsozialismus lange auf wenige bürgerliche Figuren reduziert – Stauffenberg, die Weiße Rose, Bonhoeffer. Dabei wird ein ganzes Kapitel systematisch ausgeblendet: der Widerstand aus der Arbeiterbewegung.
Bereits unter den Sozialistengesetzen Bismarcks (1878–1890) hatte die organisierte Arbeiterschaft gelernt, unter Verboten, Überwachung und Repression zu überleben. Diese Fähigkeit zur ideologischen „Überwinterung“ wurde auch im Dritten Reich tragend. Nach der Machtübernahme 1933 wurden Zehntausende Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Freidenker verfolgt, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. In den frühen Lagern wie Dachau oder Oranienburg bildeten politische Häftlinge eine der größten Gruppen – erkennbar am roten Winkel.
Trotz massiver Verfolgung organisierten sich viele weiter: in Gruppen wie Neu Beginnen, dem Roten Stoßtrupp, der SAP, der FAUD oder in betrieblichen Widerstandsnetzen. Sie verteilten Flugblätter, leisteten Sabotage, halfen Verfolgten – und planten bereits eine demokratische Nachkriegsordnung.
Dass dieser Widerstand heute kaum gewürdigt wird, liegt nicht nur an der systematischen Verdrängung nach 1945, sondern auch an der mangelnden Bereitschaft, kommunistischen Widerstand als legitimen Teil der deutschen Demokratiegeschichte anzuerkennen.
Frühe Lager, frühe Gewalt – Vom Stellawerk in Bergisch Gladbach zum KZ Hochkreuz in Porz
Die ersten Konzentrationslager entstanden 1933 oft als improvisierte „wilde Lager“ – Orte der Folter, fernab jeglicher rechtstaatlicher Kontrolle. Ein frühes Beispiel ist das Stellawerk in Bergisch Gladbach, eine leerstehende Fabrik, die die lokale NSDAP der SA zur Verfügung stellte. Nach einer konzertierten Verhaftungswelle wurden dort 29 politische Gegner – fast ausschließlich Kommunisten – misshandelt, gequält und erniedrigt. Aufgrund öffentlicher Kritik wurde das Lager geschlossen, die Strukturen aber verlagert: nach Köln-Porz ins sogenannte Lager Hochkreuz.
Dort, auf dem Gelände einer ehemaligen Sprengstofffabrik, errichtete die SA ein isoliertes Schutzhaftlager, das nicht der Polizei oder Justiz unterstand. Die Bedingungen waren menschenverachtend: Schläge, Folter, Aufhängen an den Händen, Eintauchen in Eiswasser. Einer der Häftlinge, der nierenkranke Matthias Neu, starb im Januar 1934 an den Misshandlungen. Der Beamte, der diese Vorgänge dokumentierte, war selbst überzeugter Nationalsozialist – er hielt seine Aufzeichnungen für Belege eines funktionierenden Systems.
Trotz lokaler Initiativen, die sich über Jahre für den Erhalt des Geländes einsetzten, wurde das Lager 2023 endgültig abgerissen. Damit verschwindet ein Stück Wahrheit – über die Anfänge der NS-Verfolgung in Westdeutschland und über den oft marginalisierten kommunistischen Widerstand.
Fazit
Deutschland braucht eine offene Debatte über seine Rolle im Nahen Osten – jenseits von Schuldkomplexen und Automatismen. Wer Israels Existenzrecht verteidigt, darf dennoch Kritik an seiner Regierung üben. Und wer Frieden will, muss bereit sein, alte Gewissheiten zu hinterfragen. Staatsräson darf kein Denkverbot sein – sondern muss sich an Vernunft, Völkerrecht und Verantwortung messen lassen.
Wir leben in einer Zeit, in der Künstliche Intelligenz aus militärischer Forschung hervorgegangen ist – heute jedoch das Potenzial birgt, unsere Gesellschaften grundlegend zu verändern: hin zu mehr Solidarität, technologischer Entwicklung und geteilter Verantwortung. Statt mit Eskalation und Feindbildern immer neue Zerstörung zu säen, könnten wir neue Wege des Miteinanders erschließen – und das individuelle wie gesellschaftliche Potenzial entfalten, das uns heute zur Verfügung steht. Wer in dieser Phase des Aufbruchs auf Konfrontation setzt, handelt nicht visionär, sondern rückwärtsgewandt.
Quellen und weiterführende Literatur
Zur deutschen Staatsräson und Merkels Knesset-Rede:
- Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Knesset (2008)
- Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson – Bundeszentrale für politische Bildung
- Was bedeutet Deutschlands Staatsräson konkret? – Deutsche Welle
Zur Nahostpolitik und dem Israel-Iran-Konflikt:
- Israel-Iran-Konflikt: Diplomatische Lösung noch möglich? – BR
- Nahost-Konflikt: Irans Atombombe um Jahre verzögert – MSN
- Welche Rolle spielen die USA im Israel-Iran-Konflikt? – ZDF
Zur DDR und ihrer Palästina-Politik:
- Die DDR und Palästina – Bundeszentrale für politische Bildung
- Die DDR und Palästina – Brüder im Geiste? – Zeitgeschichte Online
- PLO erklärt 1988 die Unabhängigkeit Palästinas – bpb.de
Zum Widerstand der Arbeiterbewegung und den Sozialistengesetzen:
- Widerstand aus der Arbeiterbewegung – Gedenkstätte Deutscher Widerstand
- Das Sozialistengesetz – Deutsches Historisches Museum
- Widerstand gegen den Nationalsozialismus – bpb.de
Zu politischen Häftlingen und KZ-Kategorien:
- Häftlingsgruppen im KZ – Arolsen Archives
- Kennzeichnung der Häftlinge in den Konzentrationslagern – Wikipedia
Zu frühen Konzentrationslagern im Rheinland und Sachsen:
- Frühe Konzentrationslager in Sachsen – Stiftung Sächsische Gedenkstätten
- Liste der frühen KZ – Wikipedia
- Frühe Konzentrationslager in Sachsen – Gedenkstätte Sachsenburg
Zum Lager Hochkreuz in Köln-Porz und dem Stellawerk in Bergisch Gladbach:
- Stellawerk – Stadt Bergisch Gladbach (offizielle Seite)
- Frühes SA-Folterzentrum Hochkreuz – WeAct Petition mit Hintergrundtexten
- Abriss des SA-Haftlagers Hochkreuz – Kölner Stadt-Anzeiger
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